2015 – Bürgermeister Riace (Italien)

Domenico Lucano wurde am 31. Mai 1958 in Melito di Porte Salvo, in der süditalienischen Provinz Kalabrien geboren. Er wuchs in dieser Gegend auf und wanderte schliesslich in andere Landesteile Italiens aus, wo er als Chemielehrer Arbeit fand.
Am 1. Juli 1998 sah Domenico Lucano ein Boot mit rund 200 kurdischen Flüchtlingen an der Küste zu Riace stranden. Da wusste Domenico Lucano spontan, dass diesen Menschen geholfen werden sollte. Seine einfache Grundphilosophie: ‚Menschlich gesehen ist es besser, die Türen zu öffnen, als sie verschlossen zu halten‘. Er brachte diese Menschen kurzerhand provisorisch im Pilgerhaus von Riace unter.
Und sah, dass in Riace eine ganze Menge von Häusern leer standen und dem allmählichen Verfall geweiht waren. Er holte die Einwilligung der ausgewanderten Eigentümerfamilien ein und begann, diese Häuser zusammen mit den Flüchtlingen zu renovieren, die dann ihrerseits ohne Miete darin wohnen durften. In das verlassene Riace kam wieder soziales Leben. Dank dem Arbeitswillen der Asylsuchenden auf Durchreise, dank dem Asylgeld des italienischen Staates, dank der Organisationsleistung des von Domenico Lucano begründeten und geleiteten Vereins Città Futura hat sich Riace wieder belebt. Die Schulen mussten nicht geschlossen werden. Die Läden liefen wieder besser. >Und es entstanden alte Werkstätten neu – gemeinsam betrieben von Riacesi und aufgenommenen Flüchtlingsmännern und –frauen. Die sozialen Dienste im Dorf konnten wiederbelebt werden. Und auch touristisch gewann Riace wieder an Attraktivität. Zusammen mit vielen MitstreiterInnen gelang es, im sozialen Umgang mit den Flüchtlingen die Vorteile auch für die eigene Gemeinde zu erkennen. Kein Wunder also, dass Domenico Lucano im Jahr 2004 zum Bürgermeister von Riace gewählt und seither schon zweimal wiedergewählt worden ist, ohne einer der herkömmlichen grossen politischen Parteien des Landes anzugehören. Riace und sein Bürgermeister Domenico Lucano sind heute recht bekannt und gelten als Vorbild.
Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat das Potenzial von Riace sehr früh erkannt und unterstützt finanziell ein Programm für 6 bis 12 Monate für Menschen in einem laufenden Asylverfahren. Diese Leute können mietfrei in Riace wohnen, werden beim Spracherwerb und der Suche nach Arbeit unterstützt und können über den Verein Città Futura einer bezahlten Beschäftigung nachgehen (saisonale landwirtschaftliche Hilfsarbeiten, Müllabfuhr, Kunshandwerk und ähnliches). So beherbergt Riace heute zwischen 200 und 400 Asylsuchende, die meisten von ihnen nur vorübergehend in Riace, auf dem Weg weiter in den Norden Italiens oder in andere westeuropäische Länder.
Domenico Lucano hat in der neueren Asyldebatte – in Italien und via die Medien weit darüber hinaus – einen markanten Kontrapunkt zur grundsätzlichen Abwehrhaltung gegen Flüchtlinge gesetzt. Er hat Chancen sichtbar gemacht, die sich für alle Beteiligten als menschlich, sinnvoll und lohnend herausstellen können. Domenico Lucano erinnert sich: ‚In meiner Kindheit, da war Riace lebendig. Es lebten hier mehr als 3500 Einwohner, da war einfaches, typisches süditalienisches Dorfleben‘. Und dann kam der Wirtschaftsboom, im Norden Italiens, in Deutschland, in der Schweiz, überall, nur nicht an der Sohle des italienischen Stiefels… Riace blutete über die Jahrzehnte langsam aus; die Bevölkerung schrumpfte auf nur noch rund 1500 Menschen. Heute sind es wieder gegen 2000.

Mimmo Lucano in Bern – 2022

Riace ist gewissermassen zum Entwicklungsmodell mit neuzugewanderten AusländerInnen geworden, zum Nutzen sowohl der ZuwandererInnen als auch der aufnehmenden Gesellschaft. Nicht nur in Süditalien gibt es sogenannt strukturschwache Regionen, sondern in praktisch allen europäischen Ländern. Und somit gibt es auch überall noch Potenzial bei der Aufnahme und besonders Integration von asylsuchenden Flüchtlingen.
Die Stiftung für Freiheit und Menschenrechte ehrt mit ihrem gleichnamigen Preis die herausragende und wegweisende Leistung von Domenico Lucano, den flüchtenden Menschen mit mehr Offenheit und Zuversicht zu begegnen und mit ihnen zusammen Modelle der gegenseitigen Unterstützung zu wagen.

Bildergalerie Preisverleihung 2015

NEWS

  • Im 2024 ist Domenico Lucano in einem zweiten Gerichtsverfahren von fast allen Anklagen freigesprochen worden.
  • Oktober 2021 Leserbrief zu Bund-Artikel vom 6. Okt. 2021, S. 5 über ‘Flüchtlingshelfer verurteilt’ von Göpf Berweger
    Recht oder Gerechtigkeit
    Italien-Korrespondent Oliver Meiler hat aus Rom über das unverständlich harte Gerichtsurteil gegen Domenico Lucano berichtet. Und dabei auch die wunderbare Geschichte des ehemaligen Bürgermeisters und erfinderischen Flüchtlingshelfers von Riace erzählt.
    Ich möchte als ehemaliges Stiftungsratsmitglied erwähnen, dass die Stiftung für Freiheit und Menschenrechte im November 2015 im Rathaus in Bern feierlich ihren Preis an Domenico Lucano vergeben hat. Ich habe Domenico als feinen, moralisch-engagierten, stark antibürokratisch-antiestablishment-antimafiös motivierten, impulsiven, begeisternden und herzlichen Menschen kennengelernt. Sein Traum war und ist eine bessere und gerechtere Gesellschaft, und dafür hat er selbstlos gekämpft.
    Bleibt zu hoffen, dass die gerichtliche Berufungsinstanz dies zu würdigen weiss und das Urteil kassiert oder mindestens revidiert.
  • 2021 Es freut uns, dass über das Projekt von Domenico Lucano wieder einmal berichtet wird.
  • Im 2020 ist Domenico Lucano’s Buch “Il Fuorilegge” erschienen.
    Feltrinelli Taschenbuch
    Apple eBook
    ePUB
  • Neuste Entwicklungen April 2019
    Domenico Lucano wurde vom Kassationsgerichtshof Kalabrien in allen Anklagepunkten frei gesprochen! Er darf wieder nach Riace zurückkehren. Wir freuen uns sehr über diese Enwicklung und hoffen, dass sein Projekt jetzt mit Unterstützung der Stiftung «e stato il vento» weitergeführt werden kann. Ohne staatliche Finanzierung, sondern mit Spendengeldern. Wenn Sie Riace finanziell unterstützen möchten, können Sie das über uns! Wir werden die Beträge zu 100% weiterleiten: CH12 0900 0000 3000 7340 7
  • 2019 – Kurze Zusammenfassung der Geschichte von Lucano Domenico und sein “Riace-Projekt” Was wird aus Riace und Domenico Lucano?
    Am Anfang der Geschichte standen ein kleines italienisches Dorf mit abnehmender Bevölkerungs-zahl und ein Mann mit einer Vision. Gemäss seiner Philosophie «Menschlich gesehen ist es besser, die Türen zu öffnen, als sie verschlossen zu halten» beschloss dieser, Riace mit Flüchtlingen zu be-leben und in seinem Dorf für ein menschliches Miteinander zu sorgen. Leerstehende Häuser wur-den renoviert, die Schulen besuchten mehr Schüler_innen, Geschäfte erhielten neue Kun-den_innen, das soziale Leben wurde wiederbelebt. Der ganze Ort erwachte zu neuem Leben, die Bürgerinnen und Bürger waren aktiv und voller Ideen. Dadurch gewann das Dorf auch touristische Attraktivität. Besucherinnen und Besucher wollten sehen und erleben, was an diesem Ort geschah. 2004 wurde Domenico Lucano zum Bürgermeister von Riace gewählt.
    In der Zwischenzeit ist in Italien jedoch eine rechtspopulistische Regierung mit verschärfter Immig-rationspolitik an der Macht. Innenminister Matteo Salvini fährt eine harte Linie gegen Flüchtlinge. Diese Entwicklung macht auch vor Domenico Lucano nicht Halt. Im Spätsommer 2018 wird der mig-rationsfreundliche Bürgermeister unter Hausarrest gestellt und angeklagt. Es geht darum, dass er die örtliche Müllabfuhr vor der Vergabe des Auftrags nicht öffentlich ausgeschrieben hat und um die Aufnahme illegaler Einwanderer. AnhängerInnen von Lucano vermuten, dass Salvini hinter der ganzen Aktion steckt.
    Mittlerweile wurde der Hausarrest aufgehoben, aber Domenico Lucano darf nicht nach Riace zu-rück und sein Amt als Bürgermeister wurde ihm genommen. Er wohnt in einem Nachbardorf und er leidet unter der Situation. In einem Interview sagte er: “Ich kann mich in ganz Italien frei bewegen, nur nach Riace kann ich nicht. Das ist paradox. Einerseits bin ich zufrieden, andererseits bin ich ver-bittert.”
    Domenico Lucano wird an viele Veranstaltungen eingeladen, um von seinem Projekt zu berichten. Er erzählt davon, dass Menschen in Riace die Zuwanderung als Chance und nicht als Gefahr sahen. Eine Grossveranstaltung mit ihm in Verona zählte über 1’000 Besucher. Für sein Engagement wurde er bereits Ehrenbürger von Rom, Florenz, Mailand und Turin. Ausserdem haben mehr als 1’300 Verbände, 2’400 Hochschullehrer und fast 100’000 Bürger aus ganz Europa ihren Standpunkt darge-legt, dass der Friedensnobelpreis 2019 an Domenico Lucano und die Stadt Riace geht. Weil sie als Symbol für zwanzig Jahre Solidarität, Integration und Gemeinnützigkeit gelten.
    Im ehemals lebendigen Dorf ist es ruhig geworden. Heute leben nur noch etwa 60 von ehemals 500 Migranten in Riace. Die Organisation «Communi, Solidali, Recasol» sammelte über 350’000 Euro für den Ort. Mit dem Geld wurden Schulden bezahlt und die Unterhaltskosten der Flüchtlinge sicher-gestellt, denn die Finanzhilfe des Staates bleibt aus. Vor Kurzem wurde zudem die Stiftung «è stato il vento» gegründet. Mit ihrer Hilfe wurde beispielsweise der 1. Stock des Palazzo Pinnarò, der Ar-beitsplatz des Bürgermeisters, gekauft. Die Stiftung hat zum Ziel, das Modell eines konstruktiven Mitteinanders im Flüchtlingsdorf Riace zu neuem Leben zu erwecken.
    Riace beweist, dass Solidarität für Migranten_innen, die nach der Flucht über da Mittelmeer in Ita-lien ankommen, in der Zivilgesellschaft immer noch gelebt wird. Wir als Stiftung unterstützen die-ses Engagement der Zivilgesellschaft.
    Möchten Sie uns bei diesem Engagement finanziell unterstützen? Auf folgenden Seiten ist das möglich: http://www.estatoilvento.it / http://www.comunisolidali.org /
    http://www.forumcivique.org – oder über das Konto unserer Stiftung und wir leiten es weiter:
    CH12 0900 0000 3000 7340 7
  • Wer Riace oder Domenico Lucano unterstützen möchte, kann das über nachfolgende Seiten:
    http://www.estatoilvento.it
    http://www.comunisolidali.org
    http://www.forumcivique.org
  • Da wurde auch über die Preisverleihung an Domenico Lucano berichtet.
  • 2019 – Hier gibt es Informationen zu den neusten Entwicklungen in Riace:
    https://www.riacecittafutura.org/category/artikel-auf-deutsch/
    https://www.riacecittafutura.org/category/video-in-tedesco/